Aus DER RABE RALF Oktober/November 2024, Seite 1
Lange Wege und keine Alternative: Für viele Menschen im Land ist die automobile Freiheit ein Zwang

Pro eine Million Einwohner*innen gibt es in Deutschland 9.900 Kilometer Straße, aber nur 470 Kilometer Schiene. Etwa 95 Prozent der Mobilitäts-Infrastruktur ist also für den Kfz-Verkehr gebaut. Das macht das Auto fast konkurrenzlos: Die Menschen aus den 22 Prozent der Haushalte, die kein Auto besitzen, drängen sich vorwiegend auf fünf Prozent der Infrastruktur. Kein Wunder, wenn die Bahn überfüllt ist. Anders gesagt: Fast überall in Deutschland habe ich ein hervorragendes Straßennetz für Autos. Was ich nicht habe, ist Wahlfreiheit.
Mobilitätsarmut ist nicht nur Geldmangel
Die Idee der Autogerechtigkeit schien auf den ersten Blick vielversprechend: Alle sollten frei und unabhängig mobil sein können. Plötzlich war es möglich, weit weg vom Arbeitsplatz zu wohnen und täglich zu pendeln. Das eigene Haus im Grünen lag nun in Reichweite für viele Menschen. Aber als sich diese Entwicklung verfestigte und einseitig der autoorientierte Siedlungsbau vorangetrieben wurde, zeigten sich die Nachteile immer deutlicher: Die Umweltbelastung stieg mit dem zunehmenden Autoverkehr. Alle anderen Mobilitätsformen werden heute benachteiligt. Der Mobilitätsforscher Alexander Rammert nennt es den „Teufelskreis der Autoabhängigkeit“. Wer außerhalb der Städte wohnt, muss Auto fahren. Eine Wahl hat man dort nicht.
Von den 22 Prozent der Haushalte, die nicht über einen eigenen Pkw verfügen, verzichten einige bewusst darauf. Weitere Gründe sind: zu jung (14 Millionen Kinder unter 18 Jahren), kein Führerschein (13 Millionen Menschen), pflegebedürftig (fünf Millionen), anerkannte Schwerbehinderung (acht Millionen) oder unzureichende Geldmittel. Sie alle sind in dieser autoorientierten Umgebung mobilitätsarm.
Für den männlichen Alleinversorger gebaut
Mobilitätsarmut ist vielschichtig. Fehlende Barrierefreiheit ist einer der bekannteren Aspekte. Aber auch Kinder und Jugendliche, die keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu guten Fuß- und Radwegen oder ÖPNV-Angeboten haben, können nicht selbstständig mobil sein. Menschen mit wenig Einkommen, die auf dem Land oder am Stadtrand wohnen, können ohne Auto nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Wenn attraktive ÖPNV-Angebote und gute Fuß- und Radwege fehlen, bleibt nur das Auto – ob man will oder nicht. Arme Menschen, die in Gegenden mit unattraktivem ÖPNV wohnen, werden zur teuersten Form der Alltagsmobilität gezwungen und müssen notgedrungen andere Bedürfnisse zurückstellen.
Dabei ist Deutschland ein sehr reiches Land. Zu 78 Prozent aller Haushalte gehört mindestens ein Auto. Das ist unfassbar viel: Die gesamte Bevölkerung könnte nur auf den Vordersitzen Platz nehmen. Von den 48 Millionen Pkw ist nur jeder dritte auf eine Frau zugelassen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Frauen nur ihre eigenen Autos fahren. Sowohl bei den Frauen als auch bei den Älteren nimmt die Kfz-Nutzung zu.
Dass Frauen das Auto-Angebot weniger nutzen als Männer, wundert kaum, denn das autoorientierte System wurde vor allem für den männlichen Alleinversorger eingerichtet. Er sollte bequem zur Arbeit kommen, während das Tätigkeitsfeld seiner Frau zu Hause und im nahen Wohnumfeld lag: Schule, Kita, Einkaufen. Die Folgen sind erschwerte Mobilität für Frauen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen – sie alle leiden heute besonders an Mobilitätsarmut.

Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Erschwinglichkeit
In der Forschung spricht man von verschiedenen Dimensionen der Mobilitätsarmut: Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Erschwinglichkeit, Zeitarmut und Belastungen durch den Verkehr. Sie isoliert zu betrachten, dient nur der Verständlichkeit – in der Realität greifen sie immer ineinander.
Wenn kein Bus kommt, bedeutet das, dass die Ziele des täglichen Bedarfs nur mit hoher Belastung des Haushaltsbudgets zu erreichen sind – meistens dann mit dem Auto. Helfen würde hier vor allem ein besserer ÖPNV-Takt (Verfügbarkeit).
Wer nur in Teilzeit oder zum Mindestlohn arbeitet und entsprechend weniger verdient, zahlt für den Arbeitsweg genauso viel wie andere mit hohem Einkommen. Hier würden günstigere Preise helfen (Erschwinglichkeit).
Wer einen Weg zurücklegen muss, der nicht barrierefrei gestaltet ist, muss im schlimmsten Fall zu Hause bleiben (Verfügbarkeit).
Wer viel unterwegs sein muss, weil die Zielorte nicht um die Ecke liegen, hat vielleicht keine Zeit für Familien- oder Freizeitaktivitäten (Zeitarmut). Hier würde eine bessere Erreichbarkeit von Orten des täglichen Bedarfs mehr bringen als der großflächige Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.
Ähnliches gilt für eine Person, die an einer Haupt- oder Bundesstraße wohnt (Umweltbelastung): Die Verringerung von Lärm und Luftverschmutzung würde ihr womöglich mehr helfen als günstige Tickets.
Das ist alles so geplant
Alle diese Menschen leiden aus verschiedenen Gründen unter Mobilitätsarmut. Ihre Bedürfnisse stehen aber nicht im Fokus der Verkehrsplanung. Es fließt immer noch viel mehr Geld in den Straßenaus- und -neubau als in den Ausbau von ÖPNV, Rad- und Fußverkehr. Die Grundlage dafür bildet der Bundesverkehrswegeplan von 2016, der weder Gesundheits- noch Umwelt- oder Klimaschutz berücksichtigt, sondern die „Leichtigkeit und Sicherheit“ des Kfz-Verkehrs in den Vordergrund rückt. Dieser Verkehrswegeplan ist noch bis 2030 gültig. Die dort zugrunde gelegte Kosten-Nutzen-Analyse beruht auf der sturen Annahme, dass der Autoverkehr weiter steigen wird – und kommt deswegen seit Jahrzehnten zum Ergebnis, dass mehr Straßen gebaut werden müssen. Menschen, die nicht Auto fahren, werden dabei konsequent ausgeblendet.
Eine Zahl bleibt übrigens seit Jahren konstant: 50 Prozent der Alltagswege – sogar in Randregionen – sind kürzer als fünf Kilometer und liegen damit in Radfahrentfernung. Trotzdem bewältigen die meisten Menschen diese Wege mit dem Auto. Etwa 40 Prozent der Kilometer, die mit dem Auto zurückgelegt werden, sind Urlaubs- und Freizeitverkehr, etwa 16 Prozent Berufs- und Ausbildungsverkehr. Aber eine Zahl führt die autogerechte Planung wirklich ad absurdum: In 96 Prozent der Zeit wird das Auto nicht benutzt – das Fahrzeug ist ein Stehzeug geworden.
Verkehrspolitik ist Sozialpolitik
Weil das Auto zum Standard geworden ist, scheint es ein Gleichmacher zu sein. Aber 53 Prozent der Haushalte mit sehr niedrigem Einkommen und 37 Prozent mit niedrigem Einkommen besitzen kein Auto. Wie gesagt, das Auto ist die teuerste Form der Alltagsmobilität. Wenn die Menschen aus den ärmeren Haushalten aber ins Auto gezwungen werden, weil kein alltagstauglicher ÖPNV oder andere Alternativen existieren, wird das Auto zum Treiber sozialer Ungerechtigkeit.
Die Verkehrsplanung muss sich also dringend ändern und alle Menschen gleichermaßen in den Blick nehmen. Die erzwungene Autoabhängigkeit verstärkt in vielen Gruppen der Gesellschaft das Gefühl des Abgehängtseins. Verkehrspolitik ist zum Teil auch Sozialpolitik – und sie muss dringend gerechter werden. Erfreulicherweise sind die Lösungen seit Langem bekannt und mit nachhaltiger Mobilität vereinbar. Es fehlen nur ein Perspektivenwechsel und der politische Wille – aber das kriegen wir doch hin, oder?
Ragnhild Sørensen
Weitere Informationen: www.changing-cities.org
Leserbrief
Prioritär sollten geeignete Narrative einer zukünftigen Mobilität entwickelt werdenMit dem Titelthema „Das Auto macht arm“ begibt sich die Autorin auf sehr dünnes Eis. Mit dieser Argumentation kann die Debatte um die Mobilitätswende nicht gewonnen werden, denn sie ist an vielen Stellen angreifbar, berücksichtigt meines Erachtens zentrale Argumentationen nicht und vertritt stattdessen einige sehr gewagte Thesen, die nicht belegt werden beziehungsweise sehr weit hergeholt sind.
Einige Beispiele: Der reine Vergleich zwischen Schienenkilometern und Autokilometern mag zwar rechnerisch richtig sein, die abgeleiteten Schlussfolgerungen haben jedoch sehr wenig Substanz. Wichtig wäre darauf hinzuweisen, dass früher mehr Schienen existierten und diese abgebaut wurden, weil Bahnvorstand, Politik und die Mehrheit der Gesellschaft nicht bereit waren, öffentlichen Verkehr ausreichend zu finanzieren. Bei den Straßen geht es nicht um die Länge, sondern um die Qualität für alle Verkehrsarten.
Auch die Argumentation „für den männlichen Alleinversorger gebaut“ scheint mir sehr gewagt und zumindest nicht mehr aktuell. Die ebenfalls angegebene zunehmende Nutzung des Autos durch Frauen und Ältere zeigt vielmehr, dass viele Gruppen auch zukünftig nicht allein auf ÖPNV und Fahrrad setzen werden, da sie das zum Beispiel nachts für sich ausschließen oder aufgrund von Einschränkungen nicht dazu in der Lage sind.
Wenn man das Credo „Verkehrspolitik ist Sozialpolitik“ ernst nimmt, müsste es eine differenzierte Politik für alle Verkehrsarten für Haushalte mit geringen Einkommen sowie andere Gruppen geben, dann könnten diese ihre Mobilitätsbedürfnisse befriedigen, auf die sie heute teilweise verzichten müssen.
Die spannende Frage ist, wie kann die Mobilität der Zukunft ökologisch und stadtverträglich organisiert werden – zum Beispiel durch Projekte des Umweltverbunds, Sharingmodelle, regulierte Parkflächen sowie eine stärkere Unterstützung des Umstiegs auf E-Mobilität.
In der Debatte darum sollte darauf geachtet werden, dass Mobilität nicht zu einem spaltenden Thema der Gesellschaft wird, sondern dass die Mobilität zukunftsverträglich, sozial und ökologisch organisiert wird. Prioritär sollten geeignete Zukunftsbilder und Narrative einer zukünftigen Mobilität entwickelt werden, die alle Gruppen der Bevölkerung in Stadt und Land mitnimmt.
Karsten Lindloff, Berlin-Kreuzberg