Aus DER RABE RALF Oktober/November 2024, Seiten 20, 22/23, 26/27

Notwendiger Meilenstein

Geht sozial-ökologische Transformation besser mit Vergesellschaftung? Unbedingt, sagen 50 Autorinnen und Autoren

Die Zeit für tiefgehende Veränderungen, also für eine umfassende Transformation, scheint gekommen. Denn nicht nur werden die Krisen unserer Produktions- und Lebensweise immer spürbarer, sondern – wie Hölderlin schrieb: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ In allen Regionen auf diesem Planeten wachsen alternative Projekte, entstehen zukunftsorientierte und nachhaltige Konzepte. Zugleich zeigt die Politik zunehmend ihre Unfähigkeit, die Herausforderung zu bewältigen, sie scheint sogar unwillig, angemessen zu handeln. Ja, sie verletzt selbst immer häufiger und rücksichtsloser wissenschaftliche Erkenntnisse, Prinzipien, Gesetze und Nachhaltigkeitsindikatoren – siehe die gewonnenen Klimaklagen gegen die Bundesregierung. Auf der anderen Seite arbeiten unzählige Projekte und Initiativen an einer Lösung der Probleme, sind aber als Einzelne überfordert und mühen sich unter hemmenden Rahmenbedingungen ab.

Überwindung des Konkurrenzprinzips

Eine wichtige Perspektive, Hemmnisse zu überwinden und strukturell weiterzukommen, ist die Herstellung von kollektiven, gemeinschaftlichen Zusammenhängen – konkret das Konzept der Vergesellschaftung. Und so widmen sich in diesem Buch 50 AutorInnen in 34 Beiträgen der Frage, ob und wie Vergesellschaftung einen Beitrag zur Bearbeitung oder gar Lösung der sozial-ökologischen Herausforderungen leisten kann. Sie widmen sich Fragen von Kooperation, Gemeinschaft, Allmende, Demokratie und vielem mehr. Es geht letztlich um Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs und Konkurrenzprinzips und eine Revolutionierung der heutigen zerstörerischen, nicht nachhaltigen Verhältnisse.

„Mit der Forderung nach Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, Grund und Boden sowie Naturschätzen ist in jüngster Zeit eine Idee auf die Agenda sozialer Bewegungen gekommen, die das Potenzial hat, einen solchen Wandel einzuleiten“, schreibt Sabine Nuss im Vorwort und erläutert: „Vergesellschaftung im weitesten Sinne kann beschrieben werden als eine kooperative, nicht profitorientierte Verfügungsweise über all die Mittel, mit denen sich eine Gesellschaft reproduziert. Diese Idee ist nicht neu, denn sie entstand bereits in der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts. Der historische Kontext der Debatte ist heute allerdings ein anderer. Bezog sich die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel seinerzeit vorwiegend auf Betriebe der Industrie, steht heute mit wenigen Ausnahmen die sogenannte Daseinsvorsorge im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.“

In den Buchbeiträgen werden die Mängel und Krisen unserer Gesellschaften beschrieben und kritisiert und tief liegende Ursachen zutage gefördert. In der Einleitung hebt Herausgeber Tino Pfaff zwei prinzipielle Annahmen hervor, die in allen Beiträgen zu finden sind. Da ist erstens die Annahme, dass die derzeitige Verteilung von Macht und die etablierten Formen von Eigentum eine Ursache sind für die ökologische Zerstörung und die vorherrschende sozioökonomische Ungleichheit. Wie Studien zeigten, sei das Regierungssystem in Deutschland eine „oligarchische Demokratie, in der wenige über die große Mehrheit der Menschen weitestgehend bestimmen“. Daraus ergibt sich die zweite Annahme, dass die kritische Analyse der Eigentumsformen und deren Neubestimmung eine zentrale Quelle für das Auffinden von Lösungswegen zur Bearbeitung der Krisen darstelle. Die Schlussfolgerung und Aufgabenstellung lautet für die AutorInnen der Beiträge: „Vergesellschaftung als Neukonstellation von Eigentumskonzepten muss in den Mittelpunkt der lösungsorientierten Bewältigung aktueller Missstände gestellt werden.“

Vergesellschaftung ist nicht Verstaatlichung

Ein erster Schritt zur Vergesellschaftung sei die „Enteignung der Enteigner“, wird Karl Marx zitiert. Das heißt: Was früher Gemeineigentum war und von bestimmten Personenkreisen zum Beispiel in der Phase des Neoliberalismus privatisiert, also der Gemeinschaft weggenommen wurde, sei wieder der Gemeinschaft zuzuweisen. „Den Spieß umzudrehen und die unsichtbare Enteignung der Produktionsmittellosen in die bewusste Enteignung der Produktionsmittelbesitzer umzuwandeln, ist eine genuin linke Taktik“, so Tatjana Söding in ihrem Beitrag. „Enteignungs- und Vergesellschaftungskampagnen können insbesondere deshalb sinnvoll sein, weil sie innerhalb des Rahmens der ‚bürgerlichen Legalität‘ stattfinden.“ Sie verweist hier auf die meist „vergessenen“ Grundgesetzartikel 14 und 15, in denen es um Vergesellschaftung geht.

Friederike Habermann weist in diesem Zusammenhang auf den wichtigen Umstand hin, dass „unser heutiges Verständnis von Eigentum als das Recht, auszuschließen von ausreichenden Ressourcen, einerseits sowie als Recht zu zerstören andererseits historisch jung ist“. Die totale private Verfügungsmacht über das eigene Eigentum schließe das Recht ein, dieses selbst nach Belieben zu zerstören.

Mit Vergesellschaftung ist keinesfalls Verstaatlichung gemeint, vielmehr gibt es verschiedene Formen von Vergesellschaftung. Bezug genommen wird häufig auf die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ (DWE), auf ihren Erfolg, aber auch die Verhinderungstaktik der Mächtigen. Es geht um das „Wie“.

„Eine sozial-ökologische Transformation steht vor zumindest vier Herausforderungen“, listet Heiner Koch auf. „Erstens: Es existiert noch kein kollektiver Akteur, der die Transformation umsetzen könnte. Zweitens: Der Transformationsprozess muss demokratisch gestaltet werden, obwohl Demokratie diesen Prozess manchmal erschwert. Drittens: Fragen sozialer Gerechtigkeit müssen berücksichtigt werden. Und viertens: Soziale Bewegungen müssen diese ersten drei Punkte erkämpfen.“ Seine Überzeugung: „Vergesellschaftung kann Antworten auf diese Herausforderungen liefern.“

Viele konstruktive Hinweise für die Praxis

Dabei sei es wichtig, demokratische „reale Utopien“ und ihre Vorzüge anschaulich zu machen, verdeutlicht Christopher Schmidt. Mehr noch, die Akteure müssten „konkrete Vorschläge für Formen des Kollektiveigentums, institutionelle Arrangements, demokratische Organisationsansätze und Strategien des Wandels formulieren, die gerade in sensiblen Bereichen wie der Energieversorgung oder dem Transport funktional und zuverlässig sind“. Dies müsse schließlich mit einer Bevölkerung erfolgen, die nur teilweise zu mobilisieren ist.

Der Sammelband ist einer der Meilensteine, die notwendig sind, um der sozial-ökologischen Transformation näher zu kommen. Er beschreibt einen wichtigen Baustein sowie Prinzipien, die dabei beachtet werden sollten. Dass hierzu auf historische Versuche und Konzepte wie Rätesystem oder Sozialisierung Bezug genommen wird, ist sinnvoll. Auch greifen viele Beiträge auf gesellschaftstheoretische Klassiker zurück und erörtern ihre aktuelle Nützlichkeit – von Karl Marx über Karl Korsch und Antonio Gramsci bis zu Erik Olin Wright und Nancy Fraser. Einige AutorInnen bezeichnen diese Bewegung als „neueste Linke“.

Bei einem solchen Sammelband gibt es sehr viele Überschneidungen und Dopplungen, daher reicht es, einige ausgewählte Kapitel zu lesen. Es werden viele konstruktive Hinweise für die Praxis geboten, zugleich wird aber klar, wie gigantisch die Gestaltungsaufgabe und der Anspruch sind, weil lokale und globale Krisen in allen Bereichen gelöst werden sollen. In den Worten von Jonna Klick, Nele Klemann und Indigo Drau: „Es reicht nicht, einzelne Bereiche zu vergesellschaften, sondern es geht uns um die Vergesellschaftung der ganzen Welt – um einen Bruch mit der kapitalistischen Totalität.“ Deshalb gibt es eine riesige Lücke zur Realisierung und zu einer Revolution. Hierfür aber bietet zum Beispiel die moderne Transformationsforschung konkrete Anknüpfungspunkte.

Edgar Göll

Tino Pfaff (Hrsg.):
Vergesellschaftung und die sozialökologische Frage Wie wir unsere Gesellschaft gerechter, zukunftsfähiger und resilienter machen können
Oekom Verlag, München 2024
512 Seiten, 36 Euro
ISBN 978-3-98726-062-9
 

Kostenloser PDF-Download („Open Access“) unter obigem Link – der Herausgeber bittet um Spenden: www.linktr.ee/tinopfaff


Fachkundige Einstiegshilfe

Wie sich ein Kleingarten naturnah gestalten lässt, ohne Regeln zu verletzen

Endlich ein eigener Kleingarten! In Städten wie Berlin warten Interessierte oft viele Jahre, bis sich der Traum von der eigenen Parzelle erfüllt. Und dann geht das Abenteuer erst richtig los. Wie kann man gesundes Gemüse ernten und gleichzeitig Natur und Umwelt schützen? Was hat es mit den vermeintlich strengen Regeln im Kleingartenverein auf sich?

Für diese Fragen gibt Tobias Bode fachkundige Einstiegshilfe. Er hat seine eigene 250 Quadratmeter kleine Parzelle in der Großstadt mit seiner Frau von einer überwiegend kahlen Rasenfläche in ein buntes Mosaik aus Beeten und Lebensräumen verwandelt.

Wichtig ist: Kleingärten dienen vor allem dem Anbau von Obst und Gemüse für den Eigenbedarf – mindestens ein Drittel ihrer Fläche muss dafür genutzt werden. Wegen derlei Regeln erscheint manchen das Kleingartenwesen antiquiert. Dabei sorgen die Regularien des Bundeskleingartengesetzes auch für den Schutz der grünen Oasen.

Mit Wildbienen für den Löwenzahn werben

Tobias Bode zeigt, dass ein Kleingarten durchaus naturnah gestaltet werden kann, ohne Regeln zu verletzen. Er gibt Tipps, wie der Nutzgarten so bewirtschaftet wird, dass er bereits einen Beitrag zu einem ökologisch Gleichgewicht im Garten liefert. Dazu gehören Mischkultur, Kompost, Saatgutgewinnung und andere Basics des Bio-Gärtnerns.

Im nächsten Teil geht es darum, wie sich Naturgartenprojekte kleingartenkonform umsetzen lassen – vom Totholz über einen Steinhaufen bis zum Teich. So entstehen Rückzugsgebiete für zahlreiche Insekten und Wildtiere. Hinzu kommen Empfehlungen für Stauden, Gehölze, Kletterpflanzen und Co, die einen Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt leisten.

Dazu gehört auch, das eine oder andere Unkraut wachsen zu lassen. Am Löwenzahn sammeln schließlich 70 verschiedene Wildbienenarten Pollen. Die Pflanze ist in vielen Kleingartenkolonien verpönt, darum lohnt es sich, für Toleranz zu werben. „Da kann man sich bunte, aber für Wildbienen meist uninteressante Saatgutmischungen aus dem Baumarkt sparen“, so Bode.

Theorie und Praxis Hand in Hand

Kleingärten sind, wie der Name sagt, klein. Warum also nicht über den eigenen Gartenzaun hinausdenken. Kleingartenanlagen verfügen über Gemeinschaftsflächen, auf denen man zusammen mit gleichgesinnten Vereinsmitgliedern Wiesen, Biotope oder Lehrpfade schaffen kann. Solche naturnahen Flächen können eine Vorbildfunktion entfalten und laden die Nachbarschaft sein, in die Kolonie zu kommen.

Der Qualität des Buches kommt zugute, dass der Autor gelernter Landschaftsgärtner, diplomierter Freiraumplaner, Autor bei der Gartensendung „Querbeet“ des Bayerischen Rundfunks und Zweiter Vorstand der Kleingartenanlage NW 18 in München-Moosach ist. So gehen Theorie und Praxis Hand in Hand.

Zusätzlich gibt es Porträts von naturnahen Schrebergärten aus dem ganzen Bundesgebiet. Das Buch ist mit Fotos bebildert und motiviert dazu, selbst anzufangen.

Sarah Buron

Tobias Bode:
Unser naturnaher Kleingarten Artenvielfalt und Ernteglück im Schrebergarten
Pala-Verlag, Darmstadt 2024
192 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 978-3-89566-435-9


Unromantische Wissenschaft

Peter Wohlleben schreibt Bäumen menschliche Eigenschaften zu – ein Essay kritisiert das

Peter Wohlleben ist Deutschlands bekanntester Förster. Seine Bücher, allen voran „Das geheime Leben der Bäume“, verkauften sich millionenfach und wurden in viele Sprachen übersetzt. Er ist beliebt bei Medien, Talkshows und Naturschützern. Wohlleben schreibt Bäumen menschliche Eigenschaften zu. Mutterbäume stillen ihren Nachwuchs, sie kuscheln miteinander, der Wald wird wieder zu Urwald oder urwaldähnlichem Naturwald, die Holzerzeugung soll zurückstehen.

Nun hat sich Wilhelm Bode zu Wort gemeldet, streitbarer Jurist und Forstakademiker, einst Leiter der saarländischen Forstverwaltung. Er kritisiert, dass Wohlleben „mit neuer ideologischer Begründung gegen die Wald-Erzeugung von Holz mobilisiert“. Bode ist engagierter Verfechter des auf Stetigkeit von Waldökosystemen in Raum und Zeit setzenden Dauerwald-Konzepts von Alfred Möller. Der stieß damit vor rund einem Jahrhundert auf harten, anhaltenden Widerstand bei der konservativen Forstwirtschaft. Dennoch wird nach dem Konzept erfolgreich gewirtschaftet. Bemerkenswert ist, dass Wohlleben zwar sein neues, mit Pierre Ibisch verfasstes Buch „Waldwissen“ Möller gewidmet hat, aber das Konzept nur bruchstückhaft aufgreift und die erfolgreiche Praxis nicht erwähnt.

„Keine Beweise“

In Bodes Essay geht es hart zur Sache. Wohlleben habe sich für „waldliebende Bürger sowie kommunale Waldbesitzer – und gerne auch für die produzierende Wirtschaft – zu saftigen Preisen eine gänzlich neue Marktnische eröffnet“. Ein Zufallserfolg sei dabei „eher unwahrscheinlich“, vielmehr sei das Ergebnis „marktstrategisch gezielt konstruiert“. Dafür spreche Wohlleben „die romantische Waldliebe der Deutschen an“, indem er „den Bäumen Sprache und Gefühle andichtet“.

Bäumen, Tieren oder Naturgewalten menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, ist – so auch Bode – Bestandteil aller großen Religionen und hat weltweit Eingang in die Alltagskulturen gefunden. Bode verweist diese Zuschreibungen ins Reich von Fabeln und Märchen und kann sich dazu auf eine neue Literaturstudie von 35 führenden europäischen und nordamerikanischen Ökologie- und Waldbauwissenschaftlern stützen. Zu der Frage, inwieweit über das Wurzelnetzwerk der Bäume ein erheblicher „Nahrungstransfer“ von „Mutterbäumen“ auf ihre Nachkommen und nahe gelegene Sämlinge stattfindet, heißt es darin: „Jüngste Übersichten zeigen, dass die Beweise für das ‚Mutterbaumkonzept‘ nicht schlüssig oder gar nicht vorhanden sind.“

Hartes Urteil

Sicherlich werden die Debatten über die Lebensgemeinschaft der Waldbäume und mögliche Interaktionen innerhalb und zwischen Baumarten weitergehen. Pflanzen reagieren auf Änderungen ihrer biotischen und abiotischen Umwelt mit mannigfaltigen physiologischen und morphologischen Anpassungen. Letztlich geht es darum, sachlich zu erforschen, wie sich Pflanzen im Rahmen von Arterhalt und Konkurrenz behaupten und weiterentwickeln können.

Am Ende kommt Bode zu einem harten Urteil über Wohlleben: „Er macht die begründete Kritik an der realexistierenden Forstwirtschaft, die natürlich primär der Holzerzeugung dient und auch in Zukunft dienen muss, in Deutschland unglaubwürdig, ja unmoralisch. Er hilft mit seinem Vorgehen eher den Gegnern einer, im bestehenden Klimawandel dringend gebotenen, Waldreform.“ Gebraucht werden aus Sicht von Bode „nutzbare Wälder, die dauerhaft dem Klimawandel standhalten und biologisch effizient das Nutzholz der Zukunft zu erzeugen, da es der beste erneuerbare Rohstoff ist, den wir haben und der sich biologisch nachhaltig in Dauerwäldern erzeugen lässt.“

Detlef Bimboes

Wilhelm Bode:
Waldliebe als Geschäftsmodell Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis
J.D. Sauerländer‘s Verlag, Bad Orb 2024
36 Seiten, 9,80 Euro
ISBN 978-3-7939-0920-0


Arbeit und Natur

Simon Schaupp begründet, warum ökologische und soziale Bewegungen nur gemeinsam etwas erreichen können

„Tiere und Pflanzen, die man als Naturprodukte zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht vom vorigen Jahr, sondern, in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch viele Generationen unter menschlicher Kontrolle, vermittels menschlicher Arbeit, fortgesetzten Umwandlung“, schrieb Karl Marx im ersten Band seiner bekanntesten Schrift „Das Kapital“. Der in Basel lehrende Soziologe Simon Schaupp beruft sich darauf gleich am Anfang seines im Suhrkamp-Verlag erschienen Bandes „Stoffwechselpolitik“. Denn was Marx hier ausdrückt, ist auch der Leitgedanke bei Schaupp, den er auf mehr als 400 Seiten mit vielen historischen Fakten unterlegt.

Gute Natur, schlechte Technik?

Schaupp richtet sich damit direkt an die weltweite Klimabewegung und stellt fest, dass dort die Rolle der Arbeit und vor allem der Arbeitenden entweder gar nicht erwähnt oder in einen Gegensatz zur Natur gestellt wird. Hier entsteht ein Romantizismus, der eine von Menschen unberührte Natur beschwört, was dann oft zu wenig emanzipativen Schlussfolgerungen führt. Bei manchen geht das so weit, dass „der Mensch“ als Feind der Natur gesehen wird.

Gegen eine solche Mystifizierung der Natur wendet sich Schaupp, eben auch mit Verweis auf Marx. Er betont, dass die Grenze nicht zwischen Natur und Technik verläuft. „Vielmehr verläuft die Grenze durch die Gegenstände hindurch, denn fast alle Dinge – einschließlich des menschlichen Körpers – sind sowohl gegeben als auch gemacht.“

Hier hebt Schaupp auch den hohen Stellenwert der menschlichen Arbeit hervor. Marx spricht von einem Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur. Genau darauf bezieht sich Schaupp, wenn er sein Buch „Stoffwechselpolitik“ nennt. Der Band leistet einen wichtigen Beitrag zu einer materialistischen Debatte über Klima und Umwelt, die sich von Naturromantik theoretisch abgrenzt. Aber die Ausführungen haben auch eine politische Bedeutung und liefern damit einer Klimagerechtigkeitsbewegung wichtige Argumente, die sich gemeinsam mit den ArbeiterInnen für eine lebenswerte Umwelt einsetzt.

Auch hier könnte ein recht bekanntes Marx-Zitat aus Band eins des „Kapital“ einen guten Fingerzeig geben, das Schaupp leider nicht verwendet: „Die kapitalistische Produktion entwickelt nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“

Das erste Fließband lief in einer Fleischfabrik

Doch Schaupp zeigt auch auf, dass in aller Welt und zu allen Zeiten der Eigensinn dieser ArbeiterInnen den Profit- und Vernutzungsstrategien des Kapitals Schranken setzte. Der Autor führt uns auf den Viehmarkt in Chicago, der dort im Jahr 1865 eröffnet wurde. Er beschreibt sehr anschaulich, wie in den dortigen Fleischfabriken und Schlachthäusern die ersten Fließbänder eingerichtet wurden. Die Automobilfabriken eines Henry Ford zogen erst später nach.

Schaupp beschreibt auch, warum das Fließband gerade in der Fleischindustrie zuerst Einzug hielt. Dafür waren Naturprozesse verantwortlich: „Problematisch war die Verwesung des Fleischs insbesondere beim Transport.“ So wurde an immer ausgefeilteren Methoden experimentiert, damit das Fleisch noch genießbar an die Kundschaft gelangen konnte. „Die Industrialisierung zieht ihre Kostenvorteile vor allem aus den Skaleneffekten: Je größere Mengen gleichartiger Güter man mit Hilfe von Maschinen herstellen kann, desto niedriger sind die Stückkosten. Die Fleischindustrie stand somit stärker als andere Branchen unter dem Druck, die Produktionsgeschwindigkeit zu erhöhen.“

Hier kommt auch der proletarische Eigensinn ins Spiel. Schaub stellt heraus, dass die Arbeit in den Schlachthöfen gefährlich, gesundheitsschädlich und schlecht bezahlt war. So entwickelten sich gerade in den Schlachthöfen phantasievolle Strategien der ArbeiterInnen, wie sie Upton Sinclair 1906 im Roman „Der Dschungel“ beschrieb. „Die Beschäftigten legten eigensinnige Praktiken der Nutzlosigkeit an den Tag, setzten aber auch auf eine starke Bewegung für den Achtstundentag, die ihren vorläufigen Höhepunkt mit einem Massenstreik erreichte, an dem sich am 1. Mai 1886 über 90.000 Personen beteiligten“, so Schaupp.

Hier sehen wir exemplarisch das Herangehen des Autors. Er beschreibt die technologische Entwicklung, das Verhältnis zur Natur und die Reaktionen der Arbeitenden, die auf sehr unterschiedliche Weise in den Prozess eingegriffen haben. Mit dem Begriff der Nutzlosigkeit fasst er konkrete Eingriffe in den Arbeitsprozess zusammen, beispielsweise das Anhalten oder Sabotieren des Fließbands, was bei der leicht verderblichen Ware schnell zu Produktionsausfällen führte. Schaupp zeigt an dem Schlachthof-Beispiel auch die unterschiedlichen Formen von Widerspruch und Widerstand. Auf den Kampf für den Achtstundentag reagierten Kapital und Staat mit einem blutigen Klassenkampf von oben, der zum Chicagoer Haymarket-Massaker im Jahr 1886 führte, wofür Gewerkschaftler unschuldig hingerichtet wurden. Aus dem Gedenken daran entstand der 1. Mai als internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung.

Proletarische Umweltpolitik  

Simon Schaupp gehört nicht zu denen, die behaupten, es gäbe heute keine Bewegung der ArbeiterInnen mehr. Er besteht aber darauf, dass sich die heutigen ArbeiterInnen und die Klimabewegung verbünden müssen. „Die Relevanz einer solchen proletarischen Umweltpolitik resultiert insbesondere daraus, dass es die Arbeitenden sind, die den Stoffwechsel mit der Natur vollziehen.“ Sie seien als erste von ökologischen Problemen betroffen. Daher hätten sie besonderen Anlass, darauf hinzuwirken, dass ökologische Risiken minimiert werden. Damit gibt Schaupp wichtige Impulse für eine wirkliche Klimagerechtigkeitsdebatte, indem er deutlich macht, dass es sich hier auch um eine Klassenfrage handelt.

Dafür gibt es viele Beispiele. Es sind meist arme Menschen, die in Straßen und Kiezen wohnen, wo die Luftverschmutzung besonders hoch ist. Sie leben oft in besonders ungesunden Wohnungen und auch die Bedingungen an ihren Arbeitsplätzen schädigen viel häufiger die Gesundheit. Solche Verhältnisse finden sich in vielen deutschen Städten, aber auch im globalen Süden. Schaupp spricht auch an, wie Müll aus dem globalen Norden in den Süden verbracht wird und oft dort landet, wo arme Menschen leben, die scheinbar wenig Unterstützung haben.

Aus diesem Grund sind mittlerweile in aller Welt ökologische Bewegungen aktiv, die sich auch stark mit der Klassenfrage beschäftigen. Dort gibt es die Trennung von Arbeiter- und Klimabewegung nicht. Auch hierzulande sieht Schaupp einige hoffnungsvolle Ansätze: „Aktuell gibt es in Deutschland erste Vorstöße zu einer Zusammenführung sozialer und ökologischer Forderungen. Die Gewerkschaft Verdi und Fridays for Future kooperieren etwa bei einer Kampagne für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und bessere Arbeitsbedingungen.“

Peter Nowak

Simon Schaupp:
Stoffwechselpolitik Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
422 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-518-02986-2


Klimascheinlösungen verstehen

Quellenreiche Analyse und Warnung vor Technik-Optimismus

In ihrem Buch „Climate Engineering“ setzt sich die Physikerin und promovierte Philosophin Annette Schlemm mit Ideen und Versuchen auseinander, den Klimawandel mit technischen Mitteln zu bekämpfen. Im Untertitel benennt sie die kritische Perspektive, aus der sie das Thema bearbeitet: „Wie wir uns technisch zu Tode siegen, statt die Gesellschaft zu revolutionieren“. Dabei räumt sie ein, dass sie nach ihren umfangreichen Recherchen, die sie mit einer „harschen kritischen Einstellung gegenüber dem Climate Engineering“ begonnen hatte, „viel grüblerischer herausgekommen“ sei. Denn auch sie fürchtet, es könnte nicht mehr ausreichen, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken.

Akribisch trägt die Autorin unterschiedliche Ansätze zusammen, mit denen versucht werden soll – und teils bereits versucht wird –, dem Klimawandel mit oft hochriskanten Methoden entgegenzuwirken. Dabei geht es grundsätzlich um zwei verschiedene Vorgehensweisen: Bei der einen soll die Sonneneinstrahlung vermindert werden, die andere möchte Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernen. Für beides gibt es mehrere technische Möglichkeiten.

Die Sonneneinstrahlung vermindern

Um die Erde vor der Sonne zu schützen, kann die Sonneneinstrahlung manipuliert werden, was als „Solar Radiation Management“ (SRM) bezeichnet wird. Zum Beispiel könnten riesige Spiegel im Weltraum angebracht oder kleine Partikel oder Aerosole in der Atmosphäre verteilt werden, die das Sonnenlicht zurückwerfen oder abschirmen. Die Rückstrahlkraft der Erde – Albedo genannt – kann auch erhöht werden durch Bläschen in den Ozeanen, reflektierendes Material in der Wüste, weiße Anstriche von Gebäuden und anderes.

Auch das „Wettermachen“ gehört dazu, indem Wolken zum Abregnen gebracht werden, beispielsweise indem sie mit Silberjodid „geimpft“ werden („Cloud Seeding“). Schlemm weist darauf hin, dass in den 1940er Jahren „amerikanische Militärstrategen davon träumten, eines Tages Kriege mit Wirbelstürmen und Gewittern“ führen zu können. Die Vereinten Nationen hätten solche umweltverändernden Techniken jedoch als Waffen verboten. Weitere Ansätze für SRM sind die Aufhellung von Meereswolken, oder die Ausdünnung von Zirruswolken, die unter anderem als Kondensstreifen von Flugzeugen nachts die Abstrahlung der Wärme von der Erde hemmen.

Bei diesen Methoden der Strahlungsmanipulation ist nicht immer klar, wie sie sich technisch umsetzen ließen und ob sie überhaupt funktionieren, zumal sie in unvorstellbaren Größenordnungen durchgeführt werden müssten. Auch wie solche Eingriffe wirken, ist überhaupt nicht klar, und es muss von erheblichen unerwünschten „Nebenwirkungen“ und Umweltfolgen ausgegangen werden. Wo bisher Versuche durchgeführt wurden, gab es Proteste von Umweltgruppen und Betroffenen – oft Indigene im Globalen Süden, die ihre Lebensgrundlagen bedroht sahen.

Die Autorin schreibt, die Maßnahmen zur Manipulation der Sonnenstrahlung würden „im Allgemeinen stärker abgelehnt als jene der Kohlendioxid-Entfernung“. Einzig „die lokale Aufhellung der Lebenswelt“ sieht sie als sinnvoll an, diese hätte jedoch „keine globalen Auswirkungen“.

„Weg mit dem Kohlendioxid“

Die Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre, das „Carbon Dioxide Removal“ (CDR), könnte ein erster Schritt zur Minderung der Erderwärmung sein. Die technischen Verfahren dafür brauchen viel Energie, doch Schlemm geht davon aus, dass CDR näher an der Bekämpfung von Ursachen der Klimaveränderung ist als SRM – und dass es grundsätzlich notwendig ist. Als nächstes stellt sich dann allerdings die Frage, was mit dem abgeschiedenen CO₂ geschehen und wo es möglichst dauerhaft gespeichert werden soll.

Die Bundesregierung möchte das abgeschiedene CO₂ unter hohem Druck in den Boden pressen (Carbon Capture and Storage – CCS) und die Wirtschaft anregen, Produkte herzustellen, in denen das CO₂ gespeichert wird (Carbon Capture and Utilization – CCU). CO₂ wird derzeit zum Beispiel zur Gewinnung von Erdöl oder Gas mit hohem Druck in Bohrlöcher gedrückt. „Fossile Industrie in neuer Verkleidung“ wird CCS deshalb auch genannt. Auch CCS benötigt viel Energie und ist zudem mit erheblichen Risiken wie Verschmutzung des Grundwassers und klimaschädlichen Leckagen behaftet. Auch wenn die Energie regenerativ produziert würde, wäre dies in einem solchen Ausmaß nötig, dass der globale Strombedarf sich verdoppeln würde, „selbst wenn nur die übrig gebliebenen CO₂-Reste entfernt werden müssten, weil wir größtenteils schon klimaneutral lebten“.

Der Weltklimarat IPCC favorisiert die Energieproduktion aus sogenannten Bioenergiepflanzen mit nachträglicher CO₂-Abscheidung und -Speicherung, (Bioenergy with Carbon Capture and Storage, BECCS). Nach Schlemm „wurde diese Technik zum Trojanischen Pferd des IPCC-Berichts zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels von 2018“, da sich alle vier berechneten Szenarien auf BECCS bezogen und suggerierten, die CO₂-Speicherung sei problemlos möglich. Auch der enorme Flächenbedarf für die Energiepflanzen sei ignoriert worden.

Es ist also keineswegs geklärt, wie die CO₂-Speicherung überhaupt funktionieren könnte. Das CO₂ könnte auch „in Karbonat verwandelt, also quasi versteinert“ werden, um diese Gesteine dann „in gemahlener Form entweder aufs Land oder ins Meer“ auszubringen, führt Schlemm weiter auf. Die Idee stammt aus den 1990er Jahren – damals hatte bereits der US-Mineralölkonzern Exxon über Climate Engineering nachgedacht. Exxon (in Deutschland: Esso) betreibt einen Großteil der heute bereits bestehenden CCS-Anlagen. Sein Klimawandelprogramm wird von Haroon Kheshgi geleitet, der auch als Autor an den Berichten des IPCC mitwirkt – wogegen 2017 mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen protestiert hatten, wie die Autorin mit Verweis auf die technologiekritische Organisation ETC Group berichtet. Auch die Versteinerungsidee ist offensichtlich nicht seriös durchgerechnet worden. Aus einer Arte-Doku von 2022 zitiert Schlemm einen Geochemiker: „Wenn 90 Prozent der Treibhausgasemissionen verschwinden sollen, müsste alle fünf Jahre ein Matterhorn kleingeraspelt werden“ – so viel Gesteinsmehl würde dann benötigt.

Schlemm stellt vielerlei weitere Methoden vor, mittels derer CO₂ in den Ozeanen oder auf dem Land gespeichert werden könnte, vor allem in Pflanzen. Jedoch beinhalten all diese Techniken Risiken und Unwägbarkeiten, insbesondere wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Profitabilität zum Einsatz kommen.

So kann es bei Aufforstungen, die als risikoarmer Weg der CO₂-Bindung gelten, zu Konflikten um die Nutzung von Land und Wasser kommen. Wenn für lukrative CO₂-Zertifikate Monokulturen angelegt und damit indigene Bevölkerungen verdrängt werden, wird von „Green Grabbing“ gesprochen: Landgrabbing mit grünem Anstrich. Aufgrund mangelnder Kontrolle kam es schon mehrfach zu erheblichem Betrug mit überbewerteten Zertifikaten.

Der Konzern Microsoft propagiert „Biokohle als Wunderwaffe im Klimaschutz“, jedoch verdeutlicht die Autorin, dass sich die ursprüngliche Terra preta des Amazonasgebiets nicht industriell nachbilden lässt. Ozeane wiederum können versauern, und wenn sie mit Eisen „gedüngt“ werden, um das Planktonwachstum und damit die CO₂-Aufnahme zu erhöhen, kann es zur „Bildung toxischer Algenblüten mit der Ausbildung von ‚Todeszonen‘“ kommen. Je großflächiger in natürliche Abläufe eingegriffen wird, desto schwerwiegender können die Folgen sein.

So nicht – aber wie dann?

Angesichts bestenfalls halbherziger Bemühungen um eine Reduzierung von Treibhausgasen scheint „Climate Engineering“ als Plan B immer mehr an Akzeptanz zu gewinnen, obwohl es sich ganz überwiegend um höchst fragwürdige Techniken handelt. Je höher die Erwartungen in die technischen Möglichkeiten der Bewältigung des Klimawandels geschraubt werden, desto größer wird das Risiko, dass „der Scheinausweg Climate Engineering“ den Blick auf die Notwendigkeit einer drastischen Emissionsreduzierung verstellt. Dies beschreibt die Autorin als „Moral Hazard“ (moralische Gefahr) und führt aus, dass davon „auch die grundlegende Struktur ökonomischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Strukturen“ betroffen sei, denn es werde die Illusion genährt, ein Weiter-so sei möglich.

Kritisch betrachtet sie auch die Mentalität der Quantifizierung und Ökonomisierung. Die Verengung der Perspektive auf die Reduzierung und Speicherung von CO₂ in der Landwirtschaft lasse beispielsweise vergessen, dass die „konventionelle Landwirtschaft selbst eine Quelle von starken Treibhausgasen wie Methan und Lachgas“ ist.

Immer wieder verweist Annette Schlemm darauf, dass es beim Klima um das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem geht, dass es sich dabei um eine Klassenfrage handelt, um Macht und um Interessen. Und je mehr Druck die Klimabewegung mache, weil die Zeit drängt, desto größer werde auch das Risiko, dass „über neue ‚Schockstrategien‘ herrschende Mächte“ gestärkt werden.

Klimatechnologien in der Hand privater Unternehmen schaffen dauerhafte Abhängigkeiten, zumal – besonders bei den SRM-Techniken – gefährliche „Terminationsschocks“ drohen, wenn die Klimabeeinflussung nicht auf Dauer durchgeführt wird. Denn sobald die technischen Maßnahmen beendet werden, „setzen die erwärmenden Folgen der angestiegenen Treibhausgaskonzentrationen innerhalb weniger Jahre wieder ein“.

Für CCS ist beispielsweise vorgesehen, dass „nach mehreren Jahrzehnten die Haftung auf den Staat übergeht und dieser dann die ‚Ewigkeitskosten‘ tragen muss, nachdem die Betreiber die Profite eingefahren haben“. So erstaunt es nicht, dass auch Bill Gates und andere Tech-Milliardäre in Climate Engineering investieren.

Die Logik der Naturbeherrschung stelle schon jetzt die menschliche Zivilisation in Frage und das Geoengineering treibe „diese Beherrschung der natürlichen Welt auf die Spitze“, warnt Schlemm. Statt die Natur zum Zweck der CO₂-Speicherung zu instrumentalisieren, sei eine grundlegende Veränderung im Verhältnis des Menschen zur Natur notwendig und die Anerkennung der Erde als ein lebender Organismus.

Die Autorin plädiert dafür, dass „nur naturnahe Techniken in einem verträglichen Ausmaß, d.h. mit der Nahrungsmittelproduktion und Biodiversität verträglich, eingesetzt werden“. Zuerst müsse es darum gehen, „die natürlich vorhandenen Wirkmöglichkeiten der natürlichen Senken auf dem Land und in den Ozeanen zu stärken“ und Rodungen zu stoppen. Auch naturnahe Maßnahmen dürften „nicht zum Feld für neue Profitmacherei werden“.

Beeindruckender Fundus

Etwa die Hälfte des Buches widmet sich den verschiedenen technischen Methoden des Climate Engineering. Dabei können der Detailreichtum und die Fülle an Zitaten und Verweisen mitunter verwirren, was jedoch nicht der Autorin angelastet werden soll, sondern dem komplexen Thema. In der anderen Hälfte geht es um die gesellschaftspolitische Einordnung dieser Technik-Fixierung.

Mit über tausend Anmerkungen und 39 Seiten Quellenangaben gibt dieses Buch ein erschreckendes Bild von einem Thema, das noch viel zu wenig öffentlich diskutiert wird. Um mit diesem beeindruckenden Fundus arbeiten zu können, wäre es hilfreich, wenn das Buch zusätzlich zur Druckfassung auch digital vorliegen würde, mit anklickbaren Links und vor allem durchsuchbar, denn einige Aspekte werden an verschiedenen Stellen angesprochen. Bisher ist dies leider nicht der Fall.

Ihre bisherigen Erkenntnisse möchte Annette Schlemm in eine notwendige öffentliche Debatte über Climate Engineering einbringen. Immer wieder betont sie überzeugend, dass es vorrangig um grundlegende Veränderungen von Lebensweise und Gesellschaftssystem gehen muss: „Wenn wir kein Climate Engineering wollen, müssen wir eine neue Gesellschaft wollen.“

Elisabeth Voß

Annette Schlemm:
Climate Engineering Wie wir uns technisch zu Tode siegen, statt die Gesellschaft zu revolutionieren
Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2023
322 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-99136-507-5

Wer sich einen Überblick über das Thema verschaffen möchte, kann sich vom Blog der Autorin ein Poster herunterladen: philosophenstuebchen.wordpress.com/poster 

Weitere Informationen: www.klimascheinloesungen.de 


Plädoyer für einen offensiven Umweltschutz

Muss der Natur- und Artenschutz hinter dem Klimaschutz zurückstehen?

Unter den Buchveröffentlichungen, die sich mit den Perspektiven des Umwelt- und Artenschutzes befassen, ragt das von Jan-Niclas Gesenhues erfreulich hervor. Der noch junge Bundestagsabgeordnete der Grünen, seit Februar als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium tätig, zeichnet die Entwicklung vor allem des Artenschutzes in der sogenannten „Zeitenwende“ nach, er benennt Fortschritte, Niederlagen und Gefahren.

Der Zustand des Artenschutzes ist ernüchternd. Seit Jahrzehnten gibt es jedes Jahr neue Zahlen des Niedergangs. Sie werden beklagt, eine Trendumkehr aber findet nicht statt. Gesenhues ist Vertreter einer Generation, die das nicht weiter so hinnehmen will. Das Buch ist mit fast schmerzhafter Ehrlichkeit geschrieben – und in einer beeindruckend klaren und verständlichen Sprache. Gleichzeitig vermag der Autor Begeisterung zu vermitteln und einen Schub an Optimismus mitzugeben.

Mehr Windräder oder mehr Schreiadler?

Das bedeutet viel in Zeiten, in denen im Natur- und Umweltschutz Engagierte den Eindruck haben, dass seit dem erneuten Regierungseintritt der Grünen Naturschutz und Beteiligungsrechte in unserer Gesellschaft vor allem als Hemmnisse wahrgenommen werden und große Zugeständnisse nicht nur erwartet, sondern auch erzwungen werden.

Gesenhues gibt eine Antwort auf die große Frage: Was ist in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wichtiger – wie viele Erneuerbare-Energie-Anlagen gebaut werden oder wie viele neue Schreiadler und Schweinswale sich in Deutschland heimisch fühlen? Müssen zuerst die drängenden Probleme der Klimakrise gelöst werden und können wir uns erst dann ernsthaft um Fortschritte beim Artenschutz kümmern?

Mittel und Personal für Umweltschutz

Der Autor geht auch der Frage nach, warum eigentlich Moor- und Feuchtgebietsflächen nicht im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegen, wie die von der Bundespolitik jetzt entsprechend bevorzugten Infrastruktur- und Bauvorhaben. Und warum wir gerade enorme „Spillover-Effekte“ erleben, das heißt die Anwendung von Erleichterungen für Windenergieanlagen auf alle Infrastrukturvorhaben – nicht aber auf Naturschutzvorhaben.

Anregend sind Gesenhues‘ Überlegungen zu den Aufgaben des Bundesumweltministeriums, das sich bislang vor allem um die Umwelt-Gesetzgebung kümmert und die Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen kontrolliert. Könnte und sollte sich das Ministerium stärker zu einem Förderministerium entwickeln? Ist eine sogenannte Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen – wie heute schon für ländliche Infrastruktur und regionale Wirtschaft – auch zur Wiederherstellung der Natur politisch erreichbar? Wie könnte der Bund die Personalausstattung von Vollzugsbehörden im Umweltschutz grundgesetzkonform verbessern? Mein Tipp: Die Antworten auf diese Fragen unbedingt lesen.

Torsten Raynal-Ehrke

Jan-Niclas Gesenhues:
Offensiver Umweltschutz Wie wir Natur und Wohlstand retten können
Murmann Verlag, Hamburg 2024
200 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-86774-788-2

Zur Ausgaben-Übersicht