Aus DER RABE RALF Februar/März 2021, Seite 17
Wünsche, Träume und Visionen für eine Welt für alle
Ist jetzt die richtige Zeit für Utopien? Ausgerechnet jetzt, wo die Bewältigung des Alltags und der Corona-Folgen vielen so vieles abverlangt? Oder vielleicht gerade jetzt, um nicht aufzugeben? Können Visionen für eine Welt von morgen für die Alltagskämpfe von heute ermutigen?
Schon 2019 hatte das Leipziger Konzeptwerk Neue Ökonomie zu 13 Zukunftswerkstätten eingeladen: „Stellt euch das Jahr 2048 vor, überlegt euch, was Zukunft für alle sein soll.“ Darauf aufbauend sollte im August 2020 in Leipzig ein großer Kongress „Zukunft für Alle“ stattfinden. Aufgrund der Corona-Maßnahmen wurde er überwiegend online durchgeführt. Ein Buch zum Kongress erschien unter dem Titel „Eine Vision für 2048“ im Oekom Verlag (auch online zum kostenlosen Download).
Alles
ganz anders
Wenn
es nach den UtopistInnen vom Konzeptwerk geht, dann soll sich die
Welt bis 2048 vollkommen verändert haben: Sie ist global gerecht und
demokratisch geworden, Entscheidungen werden von Räten auf
verschiedenen Ebenen getroffen, die Wirtschaft und der globale Handel
dienen den Menschen, nicht dem Profit. Die Technik ist an
menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet und Unternehmen werden
demokratisch geführt. Pro Woche sind nur noch 20 Stunden
Erwerbsarbeit nötig und Sorge-Tätigkeiten genießen besondere
Wertschätzung.
Es
gibt soziale Garantien für eine Grundversorgung und ein
funktionierendes Gesundheitssystem für alle. Schulen in der heutigen
Form wurden abgeschafft, gelernt wird in allen Lebenswelten,
kooperativ und zur Entfaltung persönlicher Potenziale. Wohnen ist
ein Grundrecht und es ist ausreichend guter Wohnraum vorhanden. Die
Lebensmittel kommen überwiegend aus kleinteiliger, regionaler
Produktion.
Das
Finanzwesen wurde demokratisiert und Spekulation abgeschafft. Der
Energieverbrauch wurde drastisch gesenkt, dank Verkehrswende
überwiegt der öffentliche Nahverkehr. Barrierefreiheit in jeder
Hinsicht ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe für alle und es gibt
keine Grenzen mehr, sondern Bewegungsfreiheit weltweit.
Und
wo, bitte, gehts jetzt lang?
Das
ist alles sehr schön erdacht, und vermutlich könnten sich ziemlich
viele Leute ziemlich schnell auf viele dieser utopischen
Vorstellungen verständigen. Sicher gäbe es nicht in jedem Punkt
Einigkeit, aber die Zukunft ist ohnehin nicht planbar, lässt sich
bestenfalls skizzieren und es gibt nur die Sicherheit, dass keine und
keiner wissen kann, wie es kommen wird.
Aber
mit diesen schönen Vorstellungen vor Augen drängt sich doch die
Frage nach dem Weg dorthin auf. So ist das wichtigste Kapitel im Buch
sicherlich „Die Transformation!“ – mit Ausrufezeichen. Die
AutorInnen weisen darauf hin, dass grundlegende Veränderungen
durchaus möglich sind, dass in der Vergangenheit beispielsweise die
Sklaverei abgeschafft und das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Dies
trifft einerseits zu und soll nicht gering geschätzt werden.
Andererseits ist die volle Gleichberechtigung von Frauen noch lange
nicht erreicht und es gibt nach wie vor sklavereiähnliche
Arbeitsverhältnisse in viel zu vielen Ländern, bis hin zu
Zwangsprostitution auch hierzulande.
Das
soll keinesfalls ein Plädoyer fürs Aufgeben sein, denn schon
Hermann Hesse wusste: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das
Mögliche zu erreichen.” Die KonzeptwerkerInnen orientieren sich an
dem vor zwei Jahren verstorbenen US-amerikanischen
Soziologieprofessor und Transformationsforscher Erik Olin Wright.
Anknüpfend an dessen Arbeiten benennen sie drei
Transformationsstrategien.
Strategien
für einen grundlegenden Wandel
Dass Freiräume „jenseits von Markt und Staat“ geschaffen werden sollen, leuchtet ein. Als Beispiele werden Solidarische Landwirtschaft, selbstverwaltete Kinderläden und Genossenschaftsbetriebe genannt. Gänzlich unabhängig von Markt und Staat lässt es sich in dieser Gesellschaft wohl kaum leben, und es ist vielleicht auch gar nicht erstrebenswert. Vielleicht reicht es aus, sich mit solidarökonomischen Betrieben und Projekten weder in absolute Abhängigkeit vom Staat zu begeben noch allein entsprechend den Funktionsweisen der Marktkonkurrenz zu wirtschaften?
Auch
die „revolutionäre Realpolitik“ überzeugt, wenngleich der
Begriff recht erklärungsbedürftig ist und die Frage aufwirft: Ja
was denn nun, Realpolitik oder Revolution? Gemeint sind Reformen, die
„über das aktuell vorherrschende Gesellschaftssystem hinausweisen“
wie beispielsweise „eine allgemeine Verkürzung der
Erwerbsarbeitszeit, radikale Umverteilung von Einkommen und Vermögen,
kommunale Mitbestimmung oder ein Grundeinkommen“.
Die dritte Strategie wirft die meisten Fragen auf, denn es geht darum, „Gegenmacht aufzubauen“. Die Machtfrage ist sicher ganz entscheidend, wenn es mit dem grundlegenden Wandel ernst gemeint ist. Dafür sollen sich „die vielfältigen Akteur:innen – von den Medien über Parteien bis hin zu ökonomischen Pionier:innen – zusammenschließen, um zukunftsweisende Bündnisse zu schmieden und Diskurse zu verschieben“. Das allein wird allerdings noch keine andere Realität schaffen, sondern dafür „müssen Auseinandersetzungen in den Köpfen und zwischenmenschlichen Beziehungen, auf den Straßen, in den Betrieben, Krankenhäusern und Parlamenten geführt werden“.
„Megatrends“
– in welche Zukunft?
Die
AutorInnen sehen in den jetzigen Corona-Zeiten ein
„Möglichkeitsfenster für eine Zukunft für alle“ und skizzieren
fünf miteinander verschränkte „Megatrends“: globale
Umverteilung, ökologische Transformation, Selbstbestimmung und
Demokratisierung, Transformation der Wirtschaft sowie Abbau von
Diskriminierung und Herrschaft.
Ja,
so sollte es sein – aber wie ist es? Die Coronakrise hat alles, was
schon bisher schlecht war, noch schlechter gemacht: Die globale
Ungleichheit nimmt zu, und aufgrund der Corona-Lockdowns sterben
Millionen Menschen im globalen Süden an Hunger sowie fehlenden
Impfungen und Medikamenten. Eine ökologische Transformation ist
nicht in Sicht, eher im Gegenteil. Mit dem „Great Reset“ des
Weltwirtschaftsforums und den von machtvollen Finanzinvestoren wie
Blackrock propagierten nachhaltigen Geldanlagen werden
Klimakatastrophe und Ressourcenraub im grünen Deckmäntelchen an
Fahrt aufnehmen.
Weltweit
führt die Pandemie zum Abbau von Grundrechten und öffnet Türen für
Repression. Politische und finanzielle Macht konzentrieren sich
weiter. Die Transformation der Wirtschaft zerstört Kleinunternehmen
und Soloselbstständige, während große Unternehmen und Konzerne mit
unvorstellbar hohen Summen an Staatsgeldern gerettet werden. Die
Diskriminierung ist den Schutzmaßnahmen eingeschrieben, weder
Geflüchtete in Sammelunterkünften oder Obdachlose werden vor
Ansteckung geschützt noch diejenigen, die Tag für Tag dafür
sorgen, dass die Gesellschaft trotz allem weiter funktioniert, die in
überfüllten Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren und an
Supermarktkassen und in Fabriken, auf dem Bau, bei Zustelldiensten
oder in Pflegeeinrichtungen zu oft erbärmlichen Bedingungen arbeiten
müssen.
Ja,
die Megatrends sind da, aber sie trenden genau in die falsche
Richtung. Umso wichtiger wäre eine kraftvolle Bewegung für ein
anderes, besseres Morgen. Aber wo sind die Akteure und wie können
sie trotz der Kontaktsperren zueinander finden?
Elisabeth Voß
Weitere Informationen: www.zukunftfueralle.jetzt
Anmerkung: Die Autorin hat selbst ein wenig an den Utopien mitgesponnen: 2019 beim Leipziger Konzeptwerk Neue Ökonomie bei einer Zukunftswerkstatt zu „Unternehmen“ und mit Video-Statements zu den Fragen: Was gibt es 2048 nicht mehr? 2048 – Worauf freust du dich? und: Was sind Schritte auf dem Weg zu deiner Vision?; im August 2020 beim Kongress „Zukunft für Alle“ (überwiegend online) mit dem Workshop „Alltagskämpfe und (Selbst)Organisierung“ der Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ in Leipzig und am Buch zum Kongress „Eine Vision für 2048“; mit utopischen Texten für einen Podcast über das Leben im Jahr 2048 für Attac und die Audioutopistas, die nun nach und nach in ihrem Blog in der Freitag-Community erscheinen.