In dem Roman „Die Brücke im Nebel“ stolpert Léo Malets Protagonist Nestor Burma, ein heruntergekommener Pariser Privatdetektiv, über einen ermordeten Anarchisten, den er noch von früher kennt – aus seiner Zeit in der Rue de Tolbiac. Hier verkehrten er und das Mordopfer in einem „foyer végétalien“, einem Veganerheim. Es verwundert erst einmal, das zu lesen. In Frankreich mit seinen „Spezialitäten“ wie Stopfleber und den sprichwörtlichen 256 Käsesorten erwartet man alles Mögliche, aber bestimmt nicht Veganismus. Tatsächlich ist über die Geschichte solcher veganen und vegetarischen Treffpunkte im Frankreich der 1920er Jahre bei uns wenig bekannt.

Vom Physikstudium zum Anarchismus

Eine frühe Vorkämpferin für eine vegane Ernährung in Frankreich und Betreiberin einer solchen Einrichtung war die in Deutschland weitgehend unbekannte Öko- und Individualanarchistin Sophie Zaïkowska. Es lassen sich nur wenige Informationen über sie finden, das meiste dürfte den kurzen Beiträgen des Historikers Jean Maitron über sie im Dictionnaire biographique, mouvement ouvrier, mouvement social und im Dictionnaire international des militants anarchistes entnommen sein.

Demnach wird Sophie Zaïkowska 1874 in der heutigen litauischen Hauptstadt Vilnius, die damals zum Russischen Kaiserreich gehörte, in eine polnische Familie geboren. Nach einem Studium der Physik in Genf kommt sie 1898 nach Frankreich.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg schreibt sie für anarchistische Zeitschriften. In Vorträgen ruft sie arbeitende Frauen auf, sich zu organisieren: „Wenn die Frau in die Gewerkschaft eintreten würde, um dort den gleichen Lohn zu fordern, wie ihn der Mann erhält, würde sie stärker und folglich unabhängiger werden.“ Gleichzeitig prangert sie den Widerstand in den männlich geprägten Gewerkschaften gegen solche Beitritte an.

Praxiserfahrungen in Landkommunen

In den 1920er Jahren betreibt sie zeitweilig ein vegetarisch-veganes Restaurant in Paris und propagiert einen veganen Lebensstil in der anarchistischen Bewegung. Ihr Restaurant ist zwar nicht jener Treffpunkt, den Léo Malet später beschreibt, aber er dürfte ihm sehr ähnlich sein.

Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Georges Butaud, Herausgeber mehrerer Bücher zur veganen Lebensweise, veröffentlicht sie bereits 1923 eine Anleitung zum Veganismus unter dem Titel „Tu seras végétalien!“ („Du wirst Veganer!“). Leider wird die Publikation später über Jahrzehnte nicht wieder aufgelegt und ist nur noch in wenigen Bibliotheken zugänglich.

„Die vegane Ernährung ist attraktiv, ethisch, ästhetisch und fraglos gesellschaftlich befreiend durch ihre Wirkungen, denn sie ermöglicht es dem Individuum, wie Robinson abseits der Zivilisation zu leben oder den Kampf mit dem Kapitalisten länger durchzuhalten“

Sophie Zaïkowska

Ab 1926 leitet Sophie Zaïkowska die von Butaud gegründete Zeitung „Le Végétarien“. Die beiden betreiben aber nicht nur Agitation, sondern leben auch selbst in veganen Landkommunen. Später schreibt Zaïkowska den Beitrag zum Schlagwort „Végétalisme“ (vegane Ernährung) für die von Sebastian Faure in den 1930er Jahren herausgegebene „Encyclopédie Anarchiste“. Darin geht es auch um gesundheitliche, ethische und sogar ästhetische Aspekte des Veganismus.

Manches, gerade in Bezug auf die Gesundheit, wird später nicht mehr so gesehen, anderes bleibt erstaunlich aktuell. So spricht sich Zaïkowska gegen künstliche Aromen und Zusatzstoffe aus – ein Thema, das dreißig Jahre später Murray Bookchin (Rabe Ralf Februar 2021, S. 16) in den USA als eine seiner ersten Beschäftigungen mit einem ökologischen Lebensstil aufgreift.

Als Journalistin und Autorin schreibt sie für Periodika wie „Education Libre“, „La Vie Anarchiste“, „Autarcie“ und „Le Néo-naturien“. 1939 stirbt sie in Paris. Ein Nachruf in der anarchistischen Zeitschrift „L‘En-Dehors“ würdigt sie als eine der wichtigsten Wegbereiterinnen des Vegetarismus.

Wegbereiterin des Vegetarismus

Auch wenn einige ihrer Positionen heute als überholt gelten, ist Sophie Zaïkowska als Vorkämpferin eines veganen Lebensstils in Frankreich von großer Bedeutung. Leider hat ihr Wirken im eigenen Land kaum gefruchtet, und so sucht man dort außerhalb von Paris noch häufig erfolglos ein veganes Restaurant. Selbst in der anarchistischen Szene Frankreichs ist ein vegetarischer oder veganer Lebensstil nicht wirklich etabliert.