Wir schreiben den 8. März 2025. Die Straßen der Hauptstadt füllen sich mit Frauen, die zum feministischen Kampftag ihrer Wut Ausdruck verleihen. Gründe gibt es genug: Femizide, Gender-Pay-Gap, Krieg, Ausbeutung, Angriffe auf das Abtreibungsrecht. Die Polizei trägt Helm und Schienbeinschoner.
Feminismus ist noch immer eine gefährliche Idee, wenn er mehr fordert als nur ein paar Aufsichtsratsposten für privilegierte Frauen. Patriarchale Gesellschaftsordnungen dominieren weiterhin weltweit und maskulinistische Großkotze wie Trump trommeln sich auf die Brust. Das Patriarchat erscheint unüberwindbar und als vermeintlich ewiges Naturgesetz. Aber stimmt das überhaupt?
Einen Tag später, am 9. März, setze ich mich an meinen Schreibtisch, um den Comic „Die Frau als Mensch“ zu besprechen. Wir begeben uns an den „Anfang der Geschichte“ – und siehe da: von Patriarchat noch keine Spur.
Die Österreicherin Ulli Lust ist eine Koryphäe des deutschsprachigen Comics. Sie interessiert sich außerdem seit 30 Jahren für die Vor- und Frühgeschichte der Menschheit. In jahrelanger Recherche- und Zeichenarbeit hat sie einen Comic-Essay von hoher wissenschaftlicher und künstlerischer Qualität geschaffen, der verschiedene erzählerische Formen verbindet: Prägende Situationen aus ihrem eigenen Alltag treffen auf die rekonstruierte Lebenswelt der Frühmenschen. Detailreiche Darstellungen von archäologischen Funden mischen sich mit wunderschönen Zeichnungen der Landschaften sowie der Tier- und Pflanzenwelt der Eiszeit. Beginnen wir am Anfang.
Bevor der Mann zum Maßstab wurde
In der Kunst ist seit Langem die Darstellung des Mannes der Standard und die Frau ist die Abweichung. Männliche Künstler dominieren die Kunstgeschichte. Wenn sie Frauen darstellen, dann meist schambehaftet. Eine Skulptur der Liebesgöttin Aphrodite versteckt ihre Vulva und Brüste vor den Blicken der Betrachter*innen.
Ulli Lust stellt hingegen fest: „Im Bilderschatz der Eiszeit repräsentiert die Frau die Kategorie Mensch.“ Über einen Zeitraum von 30.000 Jahren stellten Menschen kleine Frauenstatuetten her. 90 Prozent aller erhaltenen Menschendarstellungen haben weibliche Körper, die ihre üppigen Brüste, Vulven und Hinterteile so selbstbewusst herzeigen wie die griechischen Männer-Statuen ihre kleinen Schniedel.
Wer die Figuren geschnitzt hat, kann man nicht rekonstruieren. Im Schaukasten „Eiszeit-Mensch“ im Neuen Museum Berlin ist es ein bärtiger Mann, der gerade dabei ist, eine der Frauenfiguren herzustellen. Aber Ulli Lust ist davon überzeugt, dass es Künstlerinnen waren, die diese stolzen Abbildungen von Frauen geschaffen haben. (Und im Gegensatz zu vielen männlichen Wissenschaftlern, die ihre Vorurteile als Tatsachen verkaufen, stellt sie es klar, wenn sie ihre eigenen Vermutungen einbringt.)
Die Forschung war so lange von Männern dominiert, dass Fakten und Fiktionen zur Frühgeschichte zu einem undurchdringlichen Geflecht verwoben sind, das Ulli Lust gekonnt entwirrt. Männer haben alle Funde im Sinne der zeitgenössischen patriarchalen Gesellschaftsordnung bewertet. Dabei kamen die Frauenstatuetten nicht gut weg. Die üppigen Körper wurden als unzüchtig, triebhaft und irgendwie peinlich wahrgenommen. Damit wollten die Herren sich nicht beschäftigen.
Stattdessen widmeten sich die Forscher ausführlich den Darstellungen von Tieren, die als Jagdbeute dienten. Denn die Jäger waren Männer – das war für die Forscher sofort klar. Die Frauen müssen eine untergeordnete Rolle gespielt haben, zitiert Ulli Lust den Kultur-Philosophen Constantin Rauer, denn sie konnten angeblich nicht jagen. War die Frühgeschichte also dominiert von tapferen, wilden und aggressiven Urmännern, die Frau und Wild gleichermaßen nachstellten, wie uns die Populärkultur weismachen will?
An dieser Stelle sei ein Spoiler erlaubt: Nein. Neue Forschungen deuten darauf hin, dass die Menschen Universalist*innen waren, dass Frauen ebenso auf die Jagd gingen und dass es keine Hierarchie zwischen den Geschlechtern gab.
Ein Trip durch Raum und Zeit
Der Comic führt uns auf einen spannenden Trip durch Raum und Zeit, um die These vom plumpen, brutalen Urmenschen ein für alle Mal zu widerlegen. Wir bekommen Einblicke in das vielfältige Sozialverhalten der Menschenaffen – wobei wir weder aggressive Schimpansen noch chillige Bonobos sind. Die Evolution des aufrechten Gangs führt schließlich dazu, dass wir sehr unreife Kinder gebären, die auf ein starkes soziales Netz angewiesen sind.
Wir begegnen dem nomadischen Jäger- und Sammlervolk der Khoisan, die im heutigen Botswana leben. Die letzten existierenden Wildbeutergesellschaften geben uns Hinweise darauf, wie die Frühmenschen ihr soziales Miteinander organisiert haben. Teilen und Kooperation sind für das Überleben der Gruppe extrem wichtig, während Aggression geächtet wird.
Dann reisen wir zu den Anfängen des künstlerischen Schaffens der Menschheit. Vor etwa 50.000 Jahren begannen Menschen Bilder zu malen, die etwas darstellen – der älteste Fund stammt von der indonesischen Insel Sulawesi. Und schließlich verbringen wir Zeit in den eisigen Steppen Eurasiens, wo unsere Vorfahr*innen nicht nur ums Überleben kämpften, sondern auch komplexe kulturelle Praktiken entwickelten, von denen wir viele nicht mehr entschlüsseln können. Sie jagten Großwild, nähten warme Kleidung, tanzten, menstruierten, schnitzten, pflegten ihre verletzten Mitmenschen.
Mit ihrem Können als visuelle Erzählerin schafft es Ulli Lust, eine unglaublich hohe Informationsdichte zu erreichen, ohne zu langweilen. Trotzdem erfordert das Lesen eine gewisse Konzentration, um das Wissen wirklich zu verarbeiten. Die gut 250 Seiten erzählen noch nicht die ganze Geschichte: Der zweite Band erscheint im Frühjahr 2026 und wird eine Gruppe von Mammutjäger*innen begleiten und sich mit deren Mythenwelt beschäftigen.
Rezension zu:
- Autor
- Ulli Lust
- Titel
- Die Frau als Mensch
- Unteritel
- Am Anfang der Geschichte
- Verlag
- Reprodukt Verlag, Berlin 2025
- Seiten, Preis
- 256 Seiten, 29 Euro
- ISBN
- 978-3-95640-445-0