Stellen Sie sich vor, Sie sind Naturfreundin und aktiv in ihrem Wohnumfeld – und im Beteiligungsverfahren zum Modellprojekt Rathausblock in Kreuzberg. Sie haben sich schon lange in Ihrem Sozialraum für den Erhalt von Habitaten eingesetzt. Sie arbeiten sich in die Naturschutzaspekte des Projekts ein und engagieren sich beim Artenschutz. Sie finden Gleichgesinnte, kartieren Gebäudebrüter, organisieren sich in einem Umweltverband und gründen die „AG Artenschutz bei Bauvorhaben“ mit.
Sie melden, gutachterlich qualifiziert, rechtliche Verstöße an die zuständige Untere Naturschutzbehörde mit der Bitte um einen Vor-Ort-Termin zur sachlichen Klärung (das Beteiligungsverfahren kennt Gremien und Formate zur Erörterung der Konfliktfelder zum Interessenausgleich). Es bietet sich an, den Naturschutz und ökologische Fragestellungen mitzumoderieren.
Die Behörde kennt Ihre Arbeit. Sie waren schon öfter im öffentlichen Interesse des Naturschutzes aktiv im Stadtraum und im Bezirk gegen die Zerstörung von Habitaten für Hausbrüter, etwa bei dem geplanten Baulos Rathaus Kreuzberg, dem Mehringdamm und dem früheren Postgiroamt.
Und dann: Die zuständige Untere Naturschutzbehörde reagiert nicht auf Ihre Verstoßmeldungen. Sie informieren den Bauträger, in diesem Fall das Land Berlin, und setzen das Bezirksamt und die Wohnungsbaugesellschaft in Kopie. Rückmeldungen: keine. Stattdessen eine ganz andere Reaktion: die Androhung einer Schadensersatzklage durch die ausführende Baufirma.
Nun fragen Sie sich: Was geschieht hier? Gibt es etwa ein „geschlossenes System“ für Beteiligungswillige? Wird hier gar ein Beteiligungskrieg geführt? Verkommen Beteiligung und Mitwirkung zum Partizipationstrallala?
Hoch gelobt
Aber der Reihe nach. Das „Bündnis Stadtnatur in Kreuzberg 61“ arbeitet seit 2020 zu ökologischen und naturschutzrechtlichen Fragen auf dem sogenannten Dragonerareal am U-Bahnhof Mehringdamm und ist Mitbegründer der „AG Artenschutz bei Bauvorhaben“ der Naturfreunde Berlin. Seine Expertise floss in das Beteiligungsverfahren zum Rathausblock ein, das in der Eigendarstellung als modellhaft, transparent und offen für zivilgesellschaftliches Engagement beschrieben wird.
Das Bündnis beteiligte sich mit Infoständen und Redebeiträgen an verschiedenen Foren. Es arbeitet im Beteiligungsverfahren mit, in der AG Ökologie und Nachhaltigkeit. Es ist Mitautor einer qualifizierten und detaillierten Kartierung der Brutvögel am Dragonerareal. Die Kartierung wurde beim „Forum Rathausblock“ im Juli 2021 öffentlich präsentiert und hoch gelobt, bei den Verfahrensträgern eingereicht und ist damit Bestandteil der Arbeitsunterlagen im Bauprozess.
Abrissarbeiten
Das Baufeld Süd des Dragonerareals wurde denkmalschützerisch begutachtet und gesichert, zwischenzeitlich jedoch beräumt. Die jetzige Baubrache liegt direkt vor dem „Kiezraum“, einem nachbarschaftlichen Treffpunkt, der nach längeren, finanziell aufwändigen Bauarbeiten nun ein stadtpolitischer Begegnungsort und Initiativen-Treff geworden ist. Die Brache würde sich nunmehr für eine Zwischennutzung als ökologisch wertvolle Blumenwiese anbieten.
Das Baufeld Mitte-West grenzt an das Grundstück der eingangs erwähnten Anwohnerin und Expertin im ornithologischen Artenschutz. Seit Ende 2023 gibt es dazu fachlich begründete Schriftwechsel mit den Zuständigen und Entscheidern im Beteiligungsverfahren unter tatkräftiger Expertise der Naturfreunde Berlin. Dies wurde im Verlauf der Abrissmaßnahmen nötig, da aktuelle artenschutzrechtliche Verstöße festgestellt, dokumentiert und an die zuständige Naturschutzbehörde – und wie immer an die Verantwortlichen im Bauprozess zur Kenntnis – gemeldet wurden.
Die Vor-Ort-Termine als Chance und Instrument im so bezeichneten Beteiligungsverfahren zu nutzen, hätte sich angeboten. Alle diesbezüglichen Mühen erwiesen sich aber als vergeblich. Es gab keinerlei Antworten oder Kontaktaufnahmeversuche.
Dringlichkeit
Als Mitte Mai dieses Jahres erneut Verstöße gegen das Bundesnaturschutzgesetz festgestellt wurden, unternahm die Anwohnerin aufgrund der Dringlichkeit einen direkten telefonischen Klärungsversuch bei der ausführenden Abrissfirma. Es ging dabei um Arbeiten an einer Mauer zum Nachbargrundstück – ein großes Knöterich-Habitat, seit Jahren gewachsen und Brutstätte seltener Vogelarten –, die naturschutzrechtlich nicht sachgemäß ausgeführt wurden und Gegenstand eines Ziel- und Interessenkonflikts waren.
Das unsachgemäße Vorgehen der Abrissfirma warf Fragen auf. Es ging um die potenzielle Einkürzung der Pflanze, um das Störungsverbot im Bundesnaturschutzgesetz, Paragraf 44, und um die planerisch zu berücksichtigende Fluchtdistanz von fünf Metern für Haussperlinge.
Eskalation
Anstelle eines Lösungsangebots ergingen an die Anwohnerin und Artenschutzexpertin schon beim Telefonat „nicht unerhebliche Schadensersatzforderungen, sollte es zu Verzögerungen im Abrissablauf kommen“. Sie wies die Firma auf die Ordnungswidrigkeiten bei Nichtbeachtung von Paragraf 44 hin und rief die Polizei.
Die gerufenen Beamten versuchten, die Untere Naturschutzbehörde und die ökologische Baubegleitung zwecks juristischer und sachlicher Einordnung zu erreichen. Beide waren nicht erreichbar. (Geradezu ein Schuss in den Ofen in Sachen Artenschutz.)
Statt eines Konfliktmanagements ging wenige Tage später bei der Anwohnerin eine Schadensersatzandrohung durch die Anwälte der Abrissfirma ein – im Kern mit der Argumentations- und Denkfigur: „Die Behörde hätte längst eingegriffen, wenn es eine Ordnungswidrigkeit gegeben hätte, deshalb liegen wohl auch keine Verstöße vor.“
Empowerment ade
Die daraufhin beantragte Akteneinsicht ist noch nicht von allen beteiligten Ämtern gewährt worden. Die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM), die die landeseigenen Immobilien verwaltet, unterliegt nach eigener Aussage nicht dem Informationsfreiheitsgesetz. Gesprächsbedarf wurde harsch zurückgewiesen. Das Bündnis Stadtnatur in Kreuzberg 61 hat Anfragen an die politischen Verantwortlichen gestellt und ist auf die Antworten gespannt.
Das Bündnis findet es beschämend, dass Anwohner mit Sachkompetenz zivilrechtlich belangt werden. Statt ihre Potenziale und Ressourcen – Stichwort Citizen Science – zu nutzen, um Konfliktfelder zu erkennen und Unregelmäßigkeiten zu beheben, statt anspruchsvolle Artenschutzkonzepte zu entwickeln und dem Namen Modellprojekt gerecht zu werden, statt Vor-Ort-Termine zur direkten Klärung artenschutzrechtlicher Verstöße zu arrangieren und zu deeskalieren, wurden die Fakten bagatellisiert oder gar nicht zur Kenntnis genommen, die rechtlichen Grundlagen offensichtlich nicht beachtet und das Verursacherprinzip mit der Klageandrohung durch den Bauträger, das Land Berlin, auf den Kopf gestellt.
Ein „Beteiligungskrieg“?
Die Vorgänge lassen nur die Bewertung zu, dass Bürgerkompetenz offensichtlich als „unerwünschte Kontrolle“ gewertet wird und das Beteiligungsverfahren von der Strategie „Privatinteresse vor Sachlösung“ bestimmt wird. Die Bereitstellung professioneller Konfliktlösungsstrategien scheint im Handlungskonzept nicht vorgesehen zu sein. Der Artenschutz im Modellprojekt Rathausblock wird nur als Störfaktor betrachtet und soll offenbar über die zivilrechtliche Schiene mundtot gemacht werden. Dabei wären die Kosten bei den zur Verfügung stehenden mehreren Millionen Euro für das städtebauliche Erneuerungsgebiet „Peanuts“ gewesen.
Politik und Verwaltung, aber auch Teile der Zivilgesellschaft, sehen vor allem die Sachzwänge bei der Planung und die eigenen Interessenlagen, nicht aber die Potenziale von Konfliktmanagement als Chance und Lernfeld.
Die Einbeziehung von Anwohnerexpertise, inklusive eines vorliegenden faunistischen Gutachtens und der dazu vorgeschlagenen Ausgleichskonzepte, stünde dem vermeintlichen Modellprojekt schon als vertrauensbildende Maßnahmen gut zu Gesicht. Die Rücknahme der Zivilklage sowie eine sachlich kompetente Einlassung der Beteiligten wären eine „Wiedergutmachung“, die das Vertrauensverhältnis stärken und zur Rehabilitierung der Anwohnerbeteiligung beitragen könnte.
Partizipation gehört zur Demokratie
Einerseits wird im Beteiligungsverfahren des Modellprojekts Rathausblock nachbarschaftliches Engagement propagiert, andererseits erleben Nachbarn etwa bei Fragen, Hinweisen und dem Einbringen ihrer Erfahrungen eine eklatante Nichtbeachtung ihrer Anliegen. Berechtigte Bürgerinteressen werden offenkundig als Störfaktoren bei der Suche nach Lösungen betrachtet.
Und nun wird auch noch versucht, rechtmäßiges und sachkompetentes zivilgesellschaftliches Engagement durch rechtliche Androhungen zum Schweigen zu bringen. Zivilgesellschaftliches Engagement und Transparenz, Kernbegriffe des ursprünglich hoch gelobten Beteiligungsverfahrens, werden so zu bloßen Worthülsen herabgewürdigt.
Echte konstruktiv-kritische Partizipation gehört zur Demokratie und darf nicht durch eine interessendominierte Handlungsweise rechtbrechend und autokratisch „gelöst“ werden. Konflikte müssen da, wo sie auf fachlicher Grundlage erkennbar werden, auch fachlich gelöst werden. Zu diesem Zweck ist das Beteiligungsverfahren geschaffen worden.
Die naturschutzrechtlichen Belange müssen von den zuständigen Behörden durchgesetzt und dürfen nicht auf die zivilrechtliche Ebene verschoben werden. Ein Modellprojekt verkommt sonst zum hohlen Euphemismus und ist das Geld und das Engagement nicht wert, das es kostet.
Der Autor engagiert sich im Bündnis Stadtnatur in Kreuzberg 61 und leitet die Ortsgruppe Friedrichshain-Kreuzberg der Berliner Naturfreunde.